Es gibt eine neue Moralkeule in dieser Gesellschaft, sie riecht nicht nach Kirche, sondern nach Desinfektionsmittel, Vollkornbrot und Leitungswasser. Ihr Evangelium heißt „gesund“, ihre Bibel sind WHO-Empfehlungen, EU-Leitlinien, Ernährungsratgeber und Instagram-Fitnessaccounts. Ihre Gläubigen haben ein neues Feindbild, Menschen die es wagen, ihr Leben nicht wie ein Rechenzentrum für Krankenkassenstatistiken zu führen, sondern wie ein Leben.
Wer heute raucht, trinkt, grillt, Fleisch liebt, Zucker mag, Schokolade isst oder ganz einfach Industrieprodukte konsumiert, bricht nicht nur Empfehlungen. er verletzt stillschweigend eine neue soziale Norm. Das ist das eigentlich Perverse an dieser Entwicklung. Der offene Zwang ist gar nicht das Schlimmste, die wahre Gewalt liegt im schleichenden sozialen Druck, in der moralischen Hinrichtung im Alltag, in diesem ständigen, unterschwelligen „Wie kannst du nur“. Der Staat braucht das noch nicht mal direkt auszusprechen, die Gesellschaft erledigt die Drecksarbeit freiwillig.
Man sieht es in Büros, wenn jemand mit einer Cola oder einem Schokoriegel dasitzt und sich die ersten Sprüche anhören darf. „Na, heute wieder Diabetes light“ oder diese scheinbar witzigen Hinweise, wie ungesund das alles sei. Man sieht es bei Grillabenden, wenn der eine sein Gemüsepäckchen mit Tofu auflegt und plötzlich das Recht für sich beansprucht, allen anderen ein schlechtes Gewissen zu machen, die sich ohne moralische Grundsatzdiskussion ein Nackensteak gönnen. Man sieht es in Schulen und Kitas, wenn Eltern gegenseitig die Brotboxen ihrer Kinder bewerten und jede Süßigkeit als Erziehungsversagen brandmarken, gesellschaftliche Ächtung als Hobby.
Aus der Empfehlung ist ein indirekter Zwang geworden. Niemand verhängt offiziell Haftstrafen wegen Zucker im Kaffee, man macht es subtiler, man erklärt dir, wie unverantwortlich du bist. Man reduziert dich auf dein Gesundheitsrisiko, man unterstellt dir, du seist zu dumm oder zu schwach, um „bessere Entscheidungen“ zu treffen und wenn man dich nicht direkt beleidigt, dann exkommuniziert man dich still. Du gehörst nicht dazu, du bist „von gestern“, du nimmst Rücksicht nur auf deine Lust, nicht auf „die Allgemeinheit“.
Das ist die schleichende Entmündigung, von der kaum jemand reden will. Offiziell bist du frei, du darfst immer noch rauchen, trinken, Fleisch essen, Zucker lieben, Fett genießen, dir in der Mikrowelle eine Fertigpizza aufwärmen. In der Praxis wirst du gesellschaftlich an den Rand geschoben, sobald du das mit sichtbarer Freude tust, du wirst belächelt, kritisiert, umerzogen, beschämt. Aus Aufklärung wird Erziehung, aus Erziehung wird Dressur.
Im Hintergrund steht die kalte Logik eines Systems, das dich nicht als Mensch mit Ecken und Kanten betrachtet, sondern als Ressource. Du sollst so lange wie möglich funktionieren, arbeiten, konsumieren, Steuern zahlen, bis du umfällst. Du sollst dem Staat nicht „unnötig“ auf der Tasche liegen, weil er seine eigenen Milliarden an allen Ecken verplempert. Teure Bürokratie, politische Prestigeprojekte, Fehlentscheidungen, Rettung kaputter Banken, ineffiziente Strukturen. Das Loch, das dort gerissen wird, stopft man nicht bei denen, die es verursacht haben, man stopft es bei dir, indem man dich zum Dauerprojekt „optimierter Bürger“ macht.
Gesundheitspolitik ist in ihrem Kern längst kein Schutzschild mehr, sie ist Kostenmanagement. Deine Lunge ist eine Zeile im Budget, deine Leber ist eine Kennzahl, dein Gewicht ist eine Risikokategorie, dein Genuss ist ein Kostenfaktor und aus diesem Blickwinkel entsteht etwas Hochgefährliches. Nicht, weil die Fakten über Rauchen, Alkohol, Zucker oder massenweise Junkfood falsch wären, sondern weil man mit diesen Fakten eine Legitimation baut, um immer tiefer in dein Privatleben zu kriechen. Wie du isst, was du trinkst, wie du feierst und wie du deinen Feierabend gestaltest.
Der Staat braucht dafür keine offenen Verbote an jeder Straßenecke. Er braucht eine willige Gesellschaft, die das Spiel mitspielt und die hat man längst. Instagram-Profile, die ihren Körper zum Altar der Disziplin machen und alles, was nach Leben aussieht, als Schwäche diffamieren. Ernährungssekten, die jede Abweichung vom jeweiligen Heilsplan als Schuld behandeln. Bekannte, die dir beim Grillen die CO₂-Bilanz deiner Wurst erklären, während sie auf dem neuesten Smartphone scrollen, das in halbem Kinderhände-Blut gefertigt wurde. Dieser ganze moralische Müll klebt nicht an den Richtlinien, sondern an den Menschen, die sie mit religiösem Eifer vollstrecken.
Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet Genuss zum Feind erklärt wird. Genuss ist der Moment, in dem du dir selbst gehörst, in dem du nicht funktionierst, nicht optimierst, nicht rechnest. Ein Glas Wein, eine Zigarette auf dem Balkon, ein brutales Steak vom Grill, ein Stück Torte, das dich für fünf Minuten alles vergessen lässt. Es sind diese Augenblicke, die keinen „Output“ haben, keinen Nutzen fürs Bruttoinlandsprodukt, keine Kennzahl verbessern, keinen Algorithmus bedienen, sie sind reiner Luxus, reine Verschwendung, reines Leben.
Genau das soll ausgetrieben werden, du sollst funktionieren, nicht genießen, du sollst gehorchen, nicht entscheiden. Dir soll beigebracht werden, dass echte Freiheit in der freiwilligen Unterwerfung unter Gesundheitsziele liegt. Du sollst stolz darauf sein, „brav“ zu sein, nicht zu rauchen, nicht zu trinken. Nicht zu fett essen, nicht zu süß, nicht zu viel Fleisch. Nicht zu viel Salz, nicht zu spät schlafen, nicht zu faul. Ein Musterbürger, der seinen Körper behandelt wie ein Dienstfahrzeug der Krankenkasse.
Die perfide Pointe dabei ist, dass man dir das alles als Selbstbestimmung verkauft. Man nennt es „informierte Entscheidung“. In der Realität wirst du so lange mit Alarmmeldungen, warnenden Bildern, Steuerdrohungen, Bonusprogrammen, Zuschlägen, Abschlägen und sozialer Ächtung bearbeitet, bis du nicht mehr frei entscheidest, sondern aus Angst. Angst vor Krankheit, Angst vor Verurteilung, Angst davor, „falsch“ zu leben. Es ist keine Wahl mehr, wenn du dich ständig rechtfertigen musst, warum du sie triffst.
Brutal ehrlich gesagt sieht es so aus, der Staat braucht dich gesund, weil er dich braucht, um das Geld zu erwirtschaften, das er selbst nicht zusammenhalten kann. Die Gesellschaft braucht dich angepasst, weil jeder, der aus der Reihe tanzt, daran erinnert, dass man auch anders leben könnte und die moderne Gesundheitsreligion braucht Sünder, um sich moralisch überlegen zu fühlen. In diesem Dreieck bist du nicht mehr der Souverän deines Lebens, sondern die Figur auf einem Spielbrett, auf dem andere längst die Regeln definieren.
Niemand hat das Recht, dir vorzuschreiben, dass du deinen Körper mit Gewalt zerstören musst, aber genauso wenig hat irgendjemand das Recht, dir ein Leben ohne Genuss, ohne Risiko, ohne eigene Entscheidungen aufzuzwingen. Ein erwachsener Mensch darf bewusst sagen, ich weiß, dass das nicht optimal ist. Ich weiß, dass Rauchen schadet, Alkohol nicht gesund ist, Zucker kein Superfood, Fleisch kein Wellnessprodukt und trotzdem will ich es. Nicht jeden Tag, nicht blind, aber bewusst, weil ich kein Projekt bin, weil ich kein Gesundheitsindikator bin. Weil mein Leben mehr ist als ein Haufen Kennzahlen in einem System, das mich am Ende trotzdem fallen lässt, wenn ich nicht mehr produktiv bin.
Das ist die eigentliche Kampfzone unserer Zeit. Nicht Impfpflicht oder einzelne Verbote, so wichtig die Debatten im Detail sein mögen, sondern die viel tiefere Frage, wer am Ende das letzte Wort über dein Leben hat. Wenn wir das aus der Hand geben, bleibt am Ende eine Gesellschaft übrig, die vielleicht etwas länger lebt, aber nicht mehr weiß, wofür. Eine Gesellschaft, in der Menschen brav funktionieren, bis sie umfallen, und sich auf dem Weg dahin gegenseitig ans Messer liefern, sobald jemand sichtbar genießt.
Die bittere Wahrheit ist, die schleichende Entmündigung funktioniert nur, solange wir dabei mitmachen, solange wir uns schämen, statt zu widersprechen. Solange wir still werden, wenn uns jemand wegen eines Steaks moralisch belehren will. Solange wir jedes Stück Lebensfreude innerlich entschuldigen, als wäre es ein Verbrechen. Genau das müssen wir nicht akzeptieren. Wir sind nicht dazu da, perfekte Bausteine im Staatshaushalt zu sein, wir sind dazu da, zu leben, mit Genuss, mit Fehlern, mit Ecken und Kanten. Alles andere ist ein langes, diszipliniertes, steriles Warten auf den Tod.
