6. Oktober 2025
Doppelmoral

Doppelmoral – Das westliche Schweigen, wenn es um Israel geht

Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat sich der Gazastreifen in ein Trümmerfeld verwandelt. Was folgte, war ein militärischer Gegenschlag des israelischen Staates mit einer Konsequenz und Härte, wie sie in dieser Form kaum jemals zuvor gegen eine Zivilbevölkerung eingesetzt wurde und das mit Rückendeckung großer Teile der westlichen Welt. Der Angriff der Hamas war zweifellos ein Terrorakt. Er richtete sich gezielt gegen Zivilisten, tötete über tausend Menschen, verschleppte Geiseln, verstieß gegen jedes denkbare Kriegs- und Menschenrecht. Aber was Israel daraus ableitete, war kein Verteidigungskrieg mehr, sondern eine systematische Zerstörung eines dicht besiedelten Landstreifens, begleitet von der massenhaften Tötung von Zivilisten – und zwar nicht als Kollateralschaden, sondern als kalkulierter Bestandteil der militärischen Strategie.

Während die Bilder aus Gaza ununterbrochen zeigen, wie ganze Stadtviertel verschwinden, während internationale Organisationen vor akuter Hungersnot, dem Zusammenbruch der medizinischen Versorgung und dem Fehlen von Trinkwasser warnen, verharren die Regierungen Europas und Nordamerikas in einer rhetorischen Ausgewogenheit, die in Wirklichkeit nichts anderes ist als moralische Kapitulation. Israel „habe das Recht auf Selbstverteidigung“, heißt es gebetsmühlenartig, auch noch im neunten Monat eines Krieges, dessen Opferzahlen längst jene übersteigen, die etwa in der Ukraine in vergleichbarem Zeitraum zu beklagen waren. Man bezieht sich auf die Geschichte, die Verantwortung Deutschlands, das Existenzrecht Israels. Und zweifellos ist all das real,  aber rechtfertigt es das Verschweigen der Realität im Hier und Jetzt?

Während gegen Russland nach dem Überfall auf die Ukraine ein beispielloser Sanktionsapparat losgetreten wurde, während Vermögen eingefroren, Diplomaten ausgewiesen, Handelsbeziehungen gekappt und Medienkanäle blockiert wurden, passiert im Fall Israels nichts. Oder besser gesagt, das Gegenteil. Die USA beschlossen zusätzliche Militärhilfen. Deutschland exportiert Waffen und zwar gezielt auch solche, die für den Einsatz in Gaza geeignet sind. Erst im Spätsommer 2025, nach monatelanger innerer und äußerer Kritik, bremste Berlin einzelne Ausfuhrgenehmigungen, ließ aber das Grundmuster unangetastet. Und es wäre intellektuell unehrlich, das nicht als Doppelmoral zu benennen. Die einen werden für Verstöße gegen das Völkerrecht sanktioniert, die anderen werden dafür aufgerüstet.

Wer den internationalen juristischen Rahmen ernst nimmt, das Völkerrecht, die Genfer Konventionen, die Zuständigkeiten von Internationalem Gerichtshof (IGH) und Internationalem Strafgerichtshof (IStGH), der kann sich dieser Bewertung kaum entziehen. Der IGH hat bereits im Januar 2024 festgestellt, dass es im Gaza-Konflikt ein „ernsthaftes Risiko eines Völkermords“ gibt. Das ist keine rhetorische Spitze, sondern ein juristisch codierter Ernstfall, der Staaten verpflichtet, alles zur Verhinderung eines solchen Szenarios zu tun. Der IStGH ging weiter. Er erließ Haftbefehle gegen die israelische Regierungsspitze, gegen Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant. Parallel wurden auch Haftbefehle gegen Hamas-Führer beantragt. Die internationale Justiz spricht hier mit klarer Stimme. Aber der politische Westen hört nicht hin. Und vor allem, er handelt nicht.

Die mediale Landschaft spiegelt dieses Schweigen auf ihre eigene Weise. Zwar werden Kriegsbilder gezeigt, Opferzahlen benannt, Hilfsorganisationen zitiert. Aber Kritik am Handeln der israelischen Armee wird vorsichtig dosiert, oft in indirekter Rede, eingebettet in Statements israelischer Regierungsstellen. Journalistische Distanz, so scheint es, gilt hier doppelt und zwar so lange, bis sie nicht mehr stört. Besonders in Deutschland wird jeder Versuch, israelisches Regierungshandeln scharf zu kritisieren, reflexartig in die Nähe von Antisemitismus gerückt. Der Bundestag hat 2019 mit seiner Resolution gegen die BDS-Bewegung (Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen) ein Klima geschaffen, in dem jede israelkritische Äußerung auf Fördermittel, Raumvergabe und öffentliche Debattenfreiheit durchschlägt. Das Ergebnis ist eine subtile, aber wirksame Form der Abschreckung. Wer Veranstaltungen zum Thema Palästina organisiert, muss mit Polizei, Auflagen oder Verboten rechnen. Wer öffentlich das Vorgehen Israels anprangert, riskiert soziale Ausgrenzung, Denunziation, in Einzelfällen sogar juristische Konsequenzen.

Und doch, die Frage bleibt bestehen und sie lässt sich nicht wegmoderieren. Warum gelten für Israel andere Maßstäbe? Warum wird ein Krieg, der sich über Monate gegen eine weitgehend schutzlose Bevölkerung richtet, nicht mit den gleichen moralischen und rechtlichen Begriffen belegt wie andere Konflikte? Warum schweigt die EU, wo sie sonst jede geopolitische Verschiebung mit Eilresolutionen begleitet? Warum werden Begriffe wie „Verhältnismäßigkeit“ nur dann benutzt, wenn es gegen Gegner geht, aber nicht, wenn ein westlicher Partnerstaat mit maximaler militärischer Macht gegen Flüchtlingslager, Krankenhäuser und UN-Schulen vorgeht?

Die Antwort ist unbequem und sie liegt nicht in der Verteidigung Israels, sondern in der Schwäche des Westens. Denn diese Doppelmoral zerstört genau das Fundament, auf dem sich der Westen so gern moralisch erhebt. Die universellen Menschenrechte, die Gleichheit vor dem Recht, die Gültigkeit des humanitären Völkerrechts für alle. Wer diesen Anspruch selektiv anwendet, verspielt seine Glaubwürdigkeit, nicht nur außenpolitisch, sondern auch innen. Denn die Menschen sehen es. Und sie sehen, dass es einen Unterschied macht, wer Bomben wirft und wen sie treffen.

In der Ukraine sind zivile Opfer ein Skandal, in Gaza ein Bedauern. In der Ukraine wird Infrastrukturzerstörung als Kriegsverbrechen gewertet, in Gaza als militärische Notwendigkeit. In der Ukraine ist Flucht Grund für Asyl, in Gaza eine humanitäre Krise ohne politischen Resonanzraum. Diese semantische und juristische Schieflage ist nicht zufällig. Sie ist gewollt, sie ist politisch. Und sie ist, wenn man sich die Zahlen und Fakten nüchtern anschaut, nicht haltbar.

Es braucht keine Feindseligkeit gegenüber Israel, um das festzustellen. Im Gegenteil, es braucht die Bereitschaft, mit den gleichen Maßstäben zu messen, die man auch an Russland, China, den Iran oder andere richtet. Wer das nicht tut, schützt Israel nicht, er beschädigt es. Denn moralische Sonderzonen sind immer kurzlebig. Die Wahrheit kommt zurück. Später vielleicht, aber sie kommt. Und mit ihr die Frage, warum habt ihr damals geschwiegen?

Wer sich dieser Frage nicht stellen will, macht sich mitschuldig, nicht durch Unterlassung, sondern durch gewollte Blindheit. Und genau deshalb ist es heute notwendiger denn je, darüber zu schreiben.

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