
Die Angst vor der Wahrheit
Gesellschaften gehen nicht daran zugrunde, dass sie keine Informationen hätten, sie zerfallen weil sie die Augen verschließen. Wir leben in einer Welt, in der alles sichtbar ist, in der Daten, Bilder und Fakten im Sekundentakt durch die Netze rasen, und doch tun wir so, als sei alles unklar, alles relativ, alles Ansichtssache. Die Wahrheit liegt offen auf dem Tisch, aber wir ziehen es vor, uns Geschichten zu erzählen, wir wollen nicht wissen, sondern glauben. Wir wollen nicht erkennen, sondern verdrängen. Das größte Tabu unserer Zeit ist nicht Religion oder Sex, es ist die nackte Wahrheit.
Wir haben einen Kult der Illusionen erschaffen, der „gerechte Krieg“, der angeblich dem Frieden dient. Das „nachhaltige Wachstum“, das nichts anderes ist als die beschleunigte Zerstörung. Das „freie Internet“, das längst eine Maschine der Manipulation ist. Wir umgeben uns mit Schlagworten, die klingen wie Fortschritt, aber in Wahrheit nichts als Lügen sind. Illusionen geben Halt, aber sie sind der billige Trost eines Kindes, das im Dunkeln pfeift. Wir haben verlernt, die Dunkelheit auszuhalten.
Wahrheit wäre unbequem, sie würde Konsequenzen fordern, also verwandeln wir sie in Halbwahrheiten. Wir filtern, dosieren, verpacken. Politiker, Medien, Konzerne, sie alle servieren uns kleine Portionen, gerade so viel, dass wir nicht völlig blind bleiben, aber auch nicht aufschrecken. Eine Wahrheit, die beruhigt, ist keine Wahrheit mehr, sondern eine Lüge mit freundlichem Gesicht.
Der Einzelne macht es genauso. Wir reden uns ein, dass unser Konsum harmlos ist, dass ein Billigflug nichts ändert, dass unser Fleisch schon irgendwie „in Ordnung“ sei. Wir klammern uns an die Lüge, dass unsere Bequemlichkeit keine Folgen hat. Selbstbetrug ist zur Überlebensstrategie geworden, aber eine die uns schneller in den Abgrund führt. Wir ersticken an der bequemen Blindheit, die uns Sicherheit vorgaukelt, während wir längst im freien Fall sind.
Und wenn doch jemand den Mut hat, die Wahrheit auszusprechen? Dann wird er nicht gefeiert, sondern bestraft. Whistleblower verschwinden im Gefängnis oder im Exil, kritische Journalisten werden diffamiert, geächtet, zum Schweigen gebracht. Jeder, der den Vorhang zerreißt, wird behandelt wie ein Verräter, nicht wie ein Retter. Die Gesellschaft hasst jene, die sie aus dem Traum reißen, denn nichts ist schwerer zu ertragen als die Erkenntnis, dass man sich jahrelang selbst belogen hat.
Die Angst vor der Wahrheit ist unsere eigentliche Krankheit. Sie ist der Grund, warum wir Katastrophen ignorieren, warum wir lieber den Bildschirm anstarren als in die Welt hinauszusehen, warum wir lieber neue Mythen erfinden, als uns einzugestehen, was ist. Wir bauen an Fassaden, obwohl das Fundament längst bröckelt, wir feiern Scheinlösungen, während die Probleme wachsen. Wir töten den Boten, damit wir die Botschaft nicht hören müssen.
Doch die Wahrheit verschwindet nicht, nur weil wir sie meiden, sie wartet und wenn sie am Ende bricht wird sie brutal sein. Gesellschaften, die ihre eigenen Illusionen für Realität halten, stürzen nicht sanft, sie zerbersten. Die Geschichte ist voll von Imperien, die untergegangen sind, nicht weil sie keine Macht hatten, sondern weil sie die Realität nicht sehen wollten.
Die Wahrheit ist kein Feind, sie ist das Einzige, was bleibt, wenn die Lügen verfallen, aber sie fordert Mut. Mut, das Bequeme zu verlassen. Mut, Konsequenzen zu ziehen. Mut, den Schmerz der Erkenntnis auszuhalten. Ohne diesen Mut sind wir verloren, mit ihm hätten wir eine Chance.
Die Frage ist nicht, ob wir die Wahrheit kennen, wir kennen sie längst. Die Frage ist, ob wir den Mut haben, sie anzunehmen oder ob wir weiter in Mythen einschlafen, bis uns das Erwachen wie ein Schlag trifft, zu spät und ohne Ausweg.
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