8. Dezember 2025
Proteste in bulgarien

Bulgarien vor dem Knall – Ein Land rechnet mit seiner politischen Klasse ab

Bulgarien steht in diesen Tagen wie ein Land kurz vor dem Knall. In Sofia ist es abends nicht mehr einfach nur eine Demonstration vor dem Parlament, sondern ein brodelndes Gemisch aus Volksfest, Wutbürgeraufstand und Straßenschlacht. Zehntausende drängen sich auf den Plätzen, Menschenketten umringen das Parlament, Lautsprecher schreien Parolen gegen „Diebe“ und „Mafia“, am Rand liegen Glasscherben und Reste von Feuerwerkskörpern, in der Luft hängt Tränengas. Es sind die größten Proteste seit Jahren, und sie richten sich auf dem Papier gegen einen Haushalt, in Wirklichkeit aber gegen ein ganzes politisches System, dem viele längst jedes Vertrauen entzogen haben.

Auslöser dieser Explosion ist der Haushaltsentwurf für 2026, der erste Etat, der komplett in Euro gerechnet ist, weil Bulgarien am 1. Januar der Eurozone beitreten soll. Die Regierung hat einen Plan vorgelegt, der auf Rekordausgaben setzt und diese Ausgaben vor allem über höhere Einnahmen finanzieren will. Konkret geht es um steigende Sozialabgaben und eine Verdopplung der Steuer auf Dividenden, also um zusätzliche Lasten für Arbeitnehmer, kleine Selbstständige, Mittelstand und Investoren. Genau die Gruppen, die das Land in den vergangenen Krisenjahren irgendwie am Laufen gehalten haben, sollen nun die Rechnung für ein System bezahlen, das sie seit Jahren als korrupt, klientelistisch und selbstbedienerisch erleben. Viele sehen in diesem „Euro Haushalt“ keinen Modernisierungsschub, sondern eine elegant verpackte Steuerkeule, mit der der Staat die Bürger abkassiert, während die Netzwerke im Hintergrund weitermachen wie bisher. Der Haushalt wirkt für sie wie ein technokratischer Tarnmantel für die alte, schlichte Wahrheit, dass immer dieselben profitieren.

Auf den Straßen entlädt sich diese Diagnose in schlichter, unmissverständlicher Sprache. Auf Plakaten stehen Worte wie „Diebe“, „Schweine“ und „Mafia“, gerichtet gegen Parteien, die seit Jahrzehnten das Machtgefüge dominieren. GERB, DPS, die wechselnden Koalitionen und Zweckbündnisse der letzten Jahre verschwimmen in den Sprechchören zu einem Block der „gleichen Gesichter“, die unabhängig vom offiziellen Parteistreit immer wieder oben landen, während sich unten wenig verbessert. Der Haushaltsentwurf wird als Symbol gesehen, als Versuch, die seit langem wahrgenommene Korruption hinter komplizierten Tabellen, Eurozahlen und technischen Begriffen zu verstecken. Für viele Demonstrierende ist die Botschaft klar, es geht nicht mehr nur darum, ob die Sozialabgabe ein paar Punkte rauf geht, es geht um die Frage, wer in diesem Land seit Jahren profitiert und wer immer nur zahlt.

Die Dimension der Proteste macht deutlich, wie tief der Riss inzwischen geht. In Sofia und anderen großen Städten strömen Tag für Tag und vor allem nachts Menschen auf die Straßen, nicht nur politisierte Aktivisten, sondern Rentner, Angestellte, Studierende, Familien mit Kindern. Vor dem Parlament bildeten Tausende eine Menschenkette, um symbolisch das Gebäude der Volksvertreter zu umschließen. Autos von Abgeordneten wurden blockiert, es kam zu Rangeleien mit der Polizei, mehrere Beamte wurden verletzt. Parallel dazu entstanden in anderen Städten Kundgebungen, ein Mosaik der Unzufriedenheit, das sich wie ein Netz über das ganze Land legt. Es ist kein kurzer Wutausbruch mehr, sondern eine anhaltende Mobilisierung, die jedes weitere Manöver der Regierung begleitet und übertönt.

Spätestens nach Ende der offiziellen Kundgebungen kippt die Stimmung regelmäßig von laut zu brandgefährlich, vermummte Gruppen ziehen gezielt zu den Zentralen der Parteien, die das Regierungsbündnis tragen. Die Büros von DPS und GERB in der Hauptstadt werden nachts zu symbolischen Feindbildern, auf die Steine, Flaschen und Böller fliegen. Feuerwerkskörper werden auf Polizeiabsperrungen geschossen, Müllcontainer brennen, Fensterscheiben gehen zu Bruch, ganze Straßenzüge sind von Rauchschwaden und Sirenenlärm erfüllt. Die Polizei reagiert mit massiver Präsenz, Schlagstöcken, Tränengas und Festnahmen. Immer wieder gibt es Bilder einer Innenstadt, die am Morgen wie ein aufgeräumtes Schlachtfeld wirkt. Die Botschaft der Straße ist unmissverständlich, dieses Land ist weit darüber hinaus, nur mit höflichen Unterschriftensammlungen auf Reformen zu hoffen.

Die Regierung hat auf diesen Druck reagiert, allerdings so, wie es Bürger in vielen Ländern inzwischen nur noch als standardisierte Beruhigungsrhetorik wahrnehmen. Nach den ersten Massendemonstrationen ließ der Ministerpräsident mitteilen, der Entwurf für den Haushalt werde zurückgezogen und nach Gesprächen mit Opposition, Gewerkschaften und Arbeitgebern überarbeitet wieder eingebracht. Damit sollte das Signal gesendet werden, man sei gesprächsbereit und respektiere die Bedenken. Die Realität auf der Straße sagt etwas anderes, die Proteste ebbten nicht ab, sondern weiteten sich aus. Forderungen nach einem kompletten Regierungswechsel werden immer lauter, Opposition und verschiedene Parteien riechen Blut und verlangen offen den Rücktritt des Kabinetts. Viele Menschen glauben längst nicht mehr an kosmetische Änderungen, sondern sehen in jeder „Überarbeitung“ nur eine neue Verpackung für dieselben Interessen.

Im Hintergrund schwingt eine zweite, tiefere Angst mit, die nichts mit trockenen Haushaltszahlen zu tun hat. Bulgarien steht kurz vor dem Beitritt zur Eurozone. Offiziell wird das als Schritt in die europäische Normalität verkauft, als Garant für Stabilität und Wachstum. In der Bevölkerung sind die Gefühle gespalten, ein großer Teil der Menschen sieht den Euro skeptisch oder lehnt ihn ab, aus Sorge vor Preisexplosionen, Reallohnverlust und weiter wachsender Ungleichheit. In einem Land, in dem viele ohnehin jeden Monat rechnen müssen, ob der Lohn bis zum Ende reicht, wirkt die Kombination aus Eurostart, höheren Abgaben und sichtbarer Verschwendung in Teilen des Staatsapparats wie eine Zumutung ohne Sicherheitsnetz. Für die Protestierenden verschmelzen diese Themen zu einer einfachen Formel. Sie sollen mehr zahlen, während sie zugleich befürchten, dass der Euro vor allem für jene ein gutes Geschäft wird, die schon heute an der Spitze des Systems sitzen.

Gefährlich ist, dass in dieses Vakuum des Vertrauens Radikale stoßen, die die Wut der Straße für ihre eigenen Ziele nutzen. Nationalistische und offen rechtsradikale Kräfte haben schon Anfang des Jahres Anti-Euro-Proteste organisiert, bei denen Puppen westlicher Politiker verbrannt und EU-Gebäude angegriffen wurden. Diese Bilder passen perfekt in die Erzählung eines verratenen Volkes, das sich nur noch mit drastischen Mitteln Gehör verschaffen kann. Jetzt mischen dieselben Kräfte wieder mit, sie laufen in den Demonstrationszügen mit, schwenken Fahnen und überbieten sich in martialischer Rhetorik. Die Mehrheit der Demonstrierenden ist nicht rechtsextrem, sie ist einfach wütend und müde. Wenn die demokratischen Parteien diese Wut nicht aufnehmen und in glaubhafte Reformen übersetzen, besteht die Gefahr, dass die Lautesten und Rücksichtslosesten die Deutungshoheit übernehmen.

So entsteht eine Mischung, die jeder Innenminister in Europa fürchten würde. Ein ausgehöhltes Vertrauen in Institutionen, ein politisches System, das seit Jahren wie festgefahren wirkt, eine Bevölkerung, die steigende Preise, stagnierende Löhne und ein als unfair empfundenes Steuersystem erlebt, dazu der Druck eines anstehenden Eurobeitritts und eine politische Klasse, die im entscheidenden Moment reflexhaft auf Taktik statt auf Transparenz setzt. Daraus ist in Bulgarien keine stille Resignation geworden, sondern ein Zorn, der die Straßen füllt. Nach Jahren des Schulterzuckens rufen jetzt Zehntausende, dass es so nicht weitergeht, und sie tun es nicht mehr mit gesenktem Kopf, sondern mit erhobenen Fäusten vor dem Parlament und vor den Parteizentralen.

Die Lage ist damit weit explosiver, als es die Formel vom „Streit um den Haushalt“ vermuten lässt. Dieser Haushalt ist der Funke, der in ein längst vorbereitetes Pulverfass gefallen ist, selbst wenn die Regierung einen weichgespülten Kompromiss präsentiert, bleibt der Kern unverändert. Ein großer Teil der bulgarischen Gesellschaft glaubt nicht mehr, dass dieses System aus sich heraus gerechter wird. Die Botschaft dieses Winters ist eindeutig, die Bürger sind nicht mehr bereit, stillschweigend weiterzuzahlen, während ihnen erklärt wird, alles diene nur dem großen europäischen Projekt. Wer diese Wut ignoriert oder sie auf ein paar „Chaoten“ reduziert, versteht nicht, dass sich hier ein Land von seiner politischen Klasse entfremdet hat. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob daraus ein schmerzhafter, aber friedlicher Kurswechsel wird oder ob Bulgarien in eine lange Saison der Straßenkonfrontation hineinschlittert, während der Countdown zum Euro weiterläuft.

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